Cordula Tollmien

Juden in Göttingen

1918 bis 1933: Wirtschaftlich-kulturelle Integration und erstarkender Antisemitismus

3. Jüdisches Vereinsleben

Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts gab es auch in Göttingen ein reiches jüdisches Vereinsleben. Dessen Existenz zeugt nicht nur von der Bereitschaft zur Adaption von Gewohnheiten und Einrichtungen der christlichen Umwelt, als die die typisch deutschen Vereine zweifellos gelten können, sondern ist auch Ausdruck von weiterbestehenden älteren Traditionen der jüdischen Gemeinden. Zugleich ist diese separate jüdische Vereinskultur aber auch ein Zeichen für die nicht vollzogene Integration der jüdischen Göttinger in das gesellschaftliche Leben ihrer Stadt. So hatte der Gartenbauverein 1910 zwar immerhin einen jüdischen Schriftführer und der Fußballverein Göttingen 05 im Jahre 1923 sogar vier jüdische Mitglieder, aber insgesamt blieb man sowohl auf jüdischer wie auch auf christlicher Seite in der Regel unter sich. Dabei wäre noch zu klären, inwieweit auch in Göttingen die Satzungen der nicht-jüdischen Vereine die Mitgliedschaft von Juden explizit ausschlossen, was auch bei unpolitischen Sport- und Geselligkeitsvereinen keineswegs selten war, und inwiefern umgekehrt die jüdischen Vereine aus einem spezifisch jüdischen Abgrenzungsbedürfnis heraus christliche Mitglieder ausschlossen oder zumindest nicht gern sahen.

Einer der ältesten jüdischen Vereine in Göttingen war bezeichnenderweise der im März 1893 gegründete Deutsch-Israelitische Verein zu Göttingen. Im Vorfeld der Reichstagswahl von 1893, die dem parlamentarischen Antisemitismus seinen größten Erfolg bescheren sollte (die Göttinger gaben den Antisemiten 467 Stimmen, das entsprach 13 % der abgegebenen Stimmen, während sie reichsweit nur 3,4 % und in der Provinz Hannover sogar nur 2 % erzielten) hatte sich der Deutsch-Israelitische Verein zu Göttingen der Aufgabe verschrieben, "über Erscheinungen des Antisemitismus zu belehren und sich gegen Angriffe desselben innerlich zu kräftigen." Zwar konnten nur Juden ordentliche Mitglieder des explizit jede (partei-)politische Tätigkeit ablehnenden Vereins werden, als außerordentliche Mitglieder waren jedoch auch Nicht-Juden willkommen. Doch dem Verein, der bei seiner Gründung beachtliche 69 Mitglieder hatte (darunter vier Bankiers) und offensichtlich ein typischer (rein männlicher) Honoratiorenverein war, waren auch noch zehn Jahre nach seiner Gründung keine nicht-jüdischen Göttinger beigetreten. Wie lange dieser Verein in Göttingen tätig war, ist nicht bekannt. Denkbar wäre jedoch, daß dieser Göttinger Verein nur eine lokale Variante des genau zeitgleich in Berlin gegründeten Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gewesen ist. Diese ebenfalls politisch und religiös neutral agierende Organisation zur Abwehr des Antisemitismus und zur Beförderung "deutscher Gesinnung" hatte auch als Honoratiorengründung begonnen, konnte sich aber bald auf eine solide Mitgliederbasis stützen und entwickelte sich während der Weimarer Republik zur größten existierenden jüdischen Organisation, die 1926 über 60 000 eingeschriebene Mitglieder in 555 Ortsgruppen und 21 Landesverbänden hatte. Man schätzt, daß der Centralverein mit seiner politischen Haltung reichsweit über 300 000 deutsche Juden repräsentierte, obgleich er wegen seiner dezidierten Ablehnung des Zionismus und seinem problematischen Verhältnis zur Orthodoxie nicht für sich in Anspruch nehmen konnte, für die Gesamtheit der deutschen Juden zu sprechen. Obwohl man in Göttingen, wo es vor 1933 keine zionistische Ortsgruppe gab, davon ausgehen kann, daß sich - abgesehen von den Mitgliedern der Austrittsgemeinde - die hiesige jüdische Gemeinde mit den Zielen des Centralvereins identifizierte, nahm die Mitgliederzahl verglichen mit dem hier als Vorläufer angenommenen Deutsch-Israelitischen Verein während der Weimarer Zeit deutlich ab. Dies lag nicht nur an der oben geschilderten zurückgehenden Zahl der Gemeindemitglieder, sondern auch daran, daß es in der Weimarer Republik alternative jüdische Organisationen mit ähnlicher Zielsetzung gab: So sind zu den 1933 (im Rahmen einer Anfang August 1933 erfolgten Erhebung der jüdischen Vereine durch die Nationalsozialisten) festgestellten nur 34 Mitgliedern des Centralvereins in Göttingen noch die 43 Mitglieder des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten zu zählen, der sich 1919 in Berlin als Reaktion auf den Ausschluß der Juden aus dem Stahlhelm gebildet hatte. Dazu kamen noch 23 Mitglieder der Sportgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, in der man sich für den "Abwehrkampf" gegen den Antisemitismus durch "körperliche Ertüchtigung" rüstete. Bei allen nicht zu vernachlässigenden Gegensätzen - der Reichsbund entwickelte sich mehr und mehr zu einer deutschnationalen Organisation vergleichbar den nicht-jüdischen vaterländischen Veteranenvereinen, während der Centralverein unter dem Druck der Verhältnisse gegen Ende der Weimarer Republik unter Hinweis auf die spezifischen "jüdischen Lebenswerte" immer mehr zu einer "jüdischen Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft" wurde - bleibt daher festzuhalten, daß noch in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Diktatur in Göttingen durchschnittlich jeder zweite jüdische Mann über 14 Jahren (die genannten Vereine hatten nur männliche Mitglieder) Mitglied einer Organisation war, die dezidiert für ein deutsch-jüdisches Zusammenleben eintrat.

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